Verspätung und Nichtantritt

Antworten
uwebade
Beiträge: 9
Registriert: 06.06.2011, 22:32

Verspätung und Nichtantritt

Beitrag von uwebade » 14.05.2012, 12:12

Unter Downloads ist eine Protestentscheidung des Bundesturnierdirektors veröffentlicht, die in einer Berufungsverhandlung vom Bundesturniergerichts verworfen wurde. Siehe auch Berliner Schachverband: http://www.berlinerschachverband.de/entry/489

Es ist weder meine Absicht diese Entscheidungen, noch die zu diesem Vorfall eingegangenen Meinungsäußerungen zu kommentieren . Aber ich möchte eine Diskussion im Kollegenkreise anzuregen, deren Aussagen ggf. bei einer Überarbeitung der Turnierordnung (TO) des DSB berücksichtigt werden könnten.

Die in den FIDE-Schachregeln Artikel 6.6a festgelegte Wartezeit von 0 Minuten ist für professionell ausgerichtete Veranstaltungen mit einem öffentlichen Interesse sinnvoll und gerechtfertigt. Hierbei sind die Teilnehmer i.a. zentral untergebracht und haben eine vergleichbare Anfahrt zum Spiellokal. Diese idealen Bedingungen sind bei Veranstaltungen, zu denen die Teilnehmer privat oder unter Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel anreisen, nicht gegeben. Deshalb hat die FIDE ergänzend auch eine abweichende Wartezeit zugelassen.

Mit der Angabe einer Wartezeit beugt die TO den Fällen einer geringfügigen Verspätung vor, unabhängig davon, ob diese Verspätung von der anreisenden Mannschaft verschuldet wurde oder nicht. Sie hat die Verspätung zu Lasten ihrer Bedenkzeit zu tragen.

In den weitaus überwiegenden Fällen ist diese Verfahrensweise praktikabel. Bei der Reiseplanung wird also die Gastmannschaft ihre Anreise an den Fahrplänen der öffentlichen Verkehrsmittel bzw. bei Verwendung privater PKW an den Routenplanern so ausrichten, dass sie ca. 30 Minuten vor Spielbeginn anwesend ist und somit ihrer Sorgfaltspflicht genügt.

Natürlich ist es nicht auszuschließen, dass durch äußere, von der reisenden Mannschaft nicht zu beeinflussende Ereignisse, ihre auf eine Sicherheit von ca. 60 Minuten ausgerichtete Planung hinfällig wird und eine Verspätung eintritt, die die in der TO genannte Wartezeit überschreitet.

Zeit ist ein hohes gesellschaftliches Gut. Für die TO sollten ähnliche Überlegungen gelten, wie sie für die Terminplanung anderer Ereignisse angestellt werden, die der Austragung eines Schachwettkampfes gleichrangig sind. Die generelle Forderung, am Vortage anzureisen bzw. einen früheren Zug zu nutzen halte ich deshalb für überzogen.

In dem gleichen Maße, wie die reisende Mannschaft klaglos eine geringfügige Verspätung innerhalb der Wartezeit zu Lasten der Bedenkzeit tragen muss, sollte auch dem Gastgeber in den ganz erheblich geringeren Fällen des Überschreitens der Wartezeit bei unverschuldeter Verspätung ein weiteres Abwarten zugemutet werden.

Die Entscheidung, ob unverschuldete Gründe für die Verspätung vorliegen, ob eine das ursprüngliche Zeitlimit der Veranstaltung überschreitende Verlängerung am Spielort möglich und der zusätzliche Zeitbedarf zumutbar ist, sollte eine nicht anfechtbare Tatsachenentscheidung des Schiedsrichters sein.

Der Schiedsrichter sollte berechtigt sein, in solchen Ausnahmefällen nach Ablauf der Wartezeit die Uhren der abwesenden Gastmannschaft bis zu deren Eintreffen anzuhalten.

Eine Auslegung im Sinne der vorstehenden Überlegungen wäre m.E. eine sinnvolle Verbindung des auf den allgemeinen Fall beschränkten Wortlautes der TO und des Wortlautes der Präambel der FIDE-Schachregeln, welche die Verfahrensweise bei Ausnahmesituationen bestimmt.

Die alternative Verfahrensweise ist eine Verlusterklärung des Mannschaftskampfes mit dem höchstmöglichen Ergebnis ohne Wertung von Verspätungsgründen bei Überschreiten der Wartezeit. Sie ist einfach, praktikabel und erspart jegliche Diskussionen. Sie folgt dem allgemeinen Trend zum Formalisieren von Entscheidungsvorgängen. Aber sie schafft auch den Raum für nicht nachvollziehbare Ergebnisse, die sich der Betrachtungsweise eines sportlichen Wettkampfes entziehen.

Der vorliegende Protestfall hat neben der überragenden Bedeutung für die Beurteilung von unverschuldeten Verspätungen einen weiteren die TO berührenden Aspekt. Ich meine die Behandlung von kampflos zustande gekommenen bzw. am „Grünen Tisch“ entschiedenen Ergebnissen für Entscheidungen bei Punktgleichheit (TO, H-2.6 letzter Absatz). Hier wird der 8:0-Gewinn berücksichtigt, nicht aber der 0:8-Verlust. Die Gastmannschaft hatte den o.g. Wettkampf am Brett klar gewonnen. Ich würde es für gerechtfertigt halten, wenn analog zum 8:0-Gewinn bei einem 0:8-Verlust die erzielten (aber höchstens 3,5) Brettpunkte eingesetzt werden.

Uwe Bade

jesre
Beiträge: 41
Registriert: 20.11.2011, 22:48
Was ist die Summe aus 10 und 4?: 14

Re: Verspätung und Nichtantritt

Beitrag von jesre » 14.05.2012, 23:55

Ich denke das Pro und Contra der Verspätungsregel ist hier schon im Forum mehr
als ausreichend behandelt worden. Dein Vorschlag das Schiedsrichter
selbst entscheiden sollen ob eine Art „höhere Gewalt“ vorlag klingt revolutionär,
ist aber meines Erachtens nicht umsetzbar. Wie soll ich als Schiedsrichter denn
direkt vor Ort feststellen können ob die Schilderung auch der Wahrheit entspricht.
Leider habe ich schon oft die Erfahrung machen müssen das gerade bei Regelverstößen
die betroffene Mannschaft sehr kreativ bei der Auslegung des Geschehens ist.

Wieso kommen eigentlich meist die gegnerischen Spieler zu spät und nicht der Schiedsrichter ?
Möglicherweise weil Sie notfalls auch etwas längere Wartezeiten in Kauf nehmen.
Bei Wettkämpfen erlebe ich es immer wieder das Mannschaften erst auf den letzten Drücker
ankommen.

Dein Vorschlag in allen Ehren, aber ich bin mit dem derzeitigem Regelwerk zufrieden.

guhl
Beiträge: 26
Registriert: 24.01.2010, 15:19
Was ist die Summe aus 10 und 4?: 0
Wohnort: Buchen
Kontaktdaten:

Re: Verspätung und Nichtantritt

Beitrag von guhl » 15.05.2012, 11:02

Letzendlich ist es ein gesellschaftliches Phänomen. Immer häufiger, erlebe zumindest ich, lässt man Leute warten und verspätet sich. Vor allem bei Schachspielern und Schachturnieren ist das eine oft zu beobachtende Situation, aber wie überall sollte es so sein, dass man ganz einfach pünktlich sein muss. Der Zug wartet auch nicht auf mich, nur weil ich verschlafen habe. Wer zu spät kommt, hat einfach Pech gehabt. Daher sollte man schon soweit wie möglich alles in Betracht zu ziehen rechtzeitig zu kommen. Das derzeitige Regelwerk halte ich vollkommen für ausreichend. Vielleicht nicht aus Sicht der FIDE-Regeln, aber ich gehe mal davon aus, dass die Landesverbände die "Tolleranzzeit" nicht auf Null belassen haben. Aber das schöne ist, dass hier auch jeder seine eigene Meinung haben darf.

Ich finde nur, dass wir durch das Wartenlassen den Leuten Zeit stehen!

Georg Heinze
Beiträge: 905
Registriert: 20.10.2007, 11:27

Re: Verspätung und Nichtantritt

Beitrag von Georg Heinze » 15.05.2012, 11:30

Ich finde es schon ok., ein Problem zu diskutieren, was sich in der Praxis zugetragen hat und so oder ähnlich immer wieder auftreten könnte.
Für den Sachverhalt und die sich daraus resultierenden Handlungen sind Grundlagen und Gegebenheiten maßgeblich, die näher betrachtet werden müssten:
Das wären die FIDE-Art. 6.5 und 6.6, die Bundesturnierordnung, weitere Umstände sowie die Entscheidungsbefugnisse des Schiedsrichters.
Hier im konkreten Fall ging es letztlich darum, ob die besonderen Umstände („höhere Gewalt“) und die Entscheidungsbefugnis des Schiedsrichters betreffs der Spielverlegung um 1 Stunde richtig waren oder nicht.
Der Schiedsrichter vor Ort, der zuständige Spielleiter und der Bundesturnierdirektor waren und sind der Meinung, ja, das Bundesturniergericht sieht es anders.
Die Probleme resultieren daraus, wann ist eine Spielverlegung wegen „höherer Gewalt“ zulässig und wann nicht.
In einschlägigen Begriffsbestimmungen kann man nachlesen, was unter „höhere Gewalt“ zu verstehen ist. Da geht es aber zuvörderst um zivilrechtliche Ansprüche, Schadenersatz usw.
Für den Schachsport geht es zumeist um solche Fragen wie Glatteis oder allgemeine winterliche Bedingungen, Verkehrsunfälle, Zugverspätungen. Der Schiedsrichter vor Ort ist zumeist überfordert, wenn er die Sachverhalte eindeutig zuordnen soll und das wäre die Grundlage für eine sachgerechte Entscheidung. Alle die möglichen Situationen in eine Turnierordnung aufzunehmen, scheint mir unmöglich, bestenfalls kann man eine Art Entscheidungshilfe erstellen.
Dem Schiedsrichter mehr Befugnisse einzuräumen, halte ich aber immer für bedenklich. Ein Schiedsrichter ist auch nur ein Mensch und es gäbe neue Probleme. Auch eine Turnierordnung, und sei sie noch so gut, hilft nur dann, wenn sie auch angewendet und eingehalten wird.
Ich erinnere nur daran, dass bei Deutschen Einzelmeisterschaften z.B. das Bilden eines Turniergerichts vorgeschrieben ist. Wenn es dann trotzdem nicht gebildet wird, passiert … nichts.
Außerdem: eine Vielzahl von Meisterschaften, vor allem in den unteren Spielebenen, finden ohne neutrale Schiedsrichter statt. Soll dann der Mannschaftsführer entscheiden und wenn ja, welcher?
Ich sehe grundsätzlich nur 2 Möglichkeiten:
1. es wird immer und ohne Ausnahme nach der TO gehandelt: nach Ablauf der Karenzzeit sind die Partien verloren, bei denen keine Partieaufnahme erfolgte. So hat das Bundesturniergericht argumentiert. Allerdings finde ich das, bei Vorliegen besonderer Umstände, als sportlich nicht angemessen, aber eben eindeutig.
2. Man formuliert in der Turnierordnung mehr Entscheidungsbefugnisse des Schiedsrichters entsprechend des gegebenen Sachverhaltes. Das ist aber –wie bereits dargelegt- erstens nicht einfach und zweitens schafft es neue Probleme.

Vielleicht lohnt es auch, über andere Möglichkeiten nachzudenken?
Die Sache mit der 0-Toleranz ist doch in die FIDE-Regeln nur deswegen aufgenommen worden, damit man bei internationalen Turnieren pünktlich anfangen kann, ohne Presse, Zuschauerunruhe usw. Da hat man in aller Regel auch alle Spieler vor Ort.
Geht es aber um untergeordnete Meisterschaften oder um Meisterschaften bzw. Turniere, bei denen jeweils eine Anreise notwendig ist, brauchen wir doch diese 0-Toleranz-Regelung nicht und auch in den meisten Fälle keine anderweitige Begrenzung.
In Sachsen werden die Meisterschaften (ohne neutrale Schiedsrichter) mit der „alten Regelung“ durchgeführt:
6. Wartezeit:
Für die Wartezeit entsprechend FIDE-Regel 6.6 a) wird festgelegt:
Jeder Spieler, der mehr als eine Stunde nach dem angesetzten Spielbeginn am Schachbrett eintrifft, verliert die Partie.
Im vorliegenden Fall hätte das bedeutet: Die Norderstedter Spieler hätten mit 1 Stunde weniger Bedenkzeit spielen müssen oder man hätte sich auf eine anderweitige Regelung geeinigt.
Unter Schachsportlern, die nicht nur nach dem Punkte haschen, sondern in erster Linie Schach spielen wollen, sollte da eine vernünftige Regelung möglich sein.

Im übrigen sollte man noch warten, was das im vorliegenden Fall angerufene Landgericht Berlin dazu meint. Vielleicht kommen da auch nützliche Hinweise?

Eckart
Beiträge: 292
Registriert: 10.12.2007, 16:41
Was ist die Summe aus 10 und 4?: 0
Wohnort: Marburg an der Lahn

Re: Verspätung und Nichtantritt

Beitrag von Eckart » 09.06.2012, 18:38

uwebade hat geschrieben:Mit der Angabe einer Wartezeit beugt die TO den Fällen einer geringfügigen Verspätung vor, unabhängig davon, ob diese Verspätung von der anreisenden Mannschaft verschuldet wurde oder nicht. Sie hat die Verspätung zu Lasten ihrer Bedenkzeit zu tragen.
Das gilt nicht nur für Spieler der anreisenden Mannschaft, sondern auch für die der Heimmannschaft. Wenn Jan Gustafsson von Hamburg zur Bundesliga-Doppelrunde nach Baden-Baden anreist, gilt für ihn die Wartezeit, unabhängig davon, ob er dort für die Heimmannschaft oder für eine Gastmannschaft (z. B. Hamburger SK) antritt.
uwebade hat geschrieben:In den weitaus überwiegenden Fällen ist diese Verfahrensweise praktikabel. Bei der Reiseplanung wird also die Gastmannschaft ihre Anreise an den Fahrplänen der öffentlichen Verkehrsmittel bzw. bei Verwendung privater PKW an den Routenplanern so ausrichten, dass sie ca. 30 Minuten vor Spielbeginn anwesend ist und somit ihrer Sorgfaltspflicht genügt.
Eine derartige „Sorgfaltspflicht“ ist in der Turnierordnung nirgendwo normiert. Auch von „ca. 30 Minuten vor Spielbeginn“ ist nirgendwo die Rede. Abgabe der Mannschaftsaufstellung bis 15 Minuten vor Spielbeginn, zum angesetzten Zeitpunkt werden die Uhren in Gang gesetzt, und wer bis zum Ablauf der Wartezeit nicht erschienen ist, hat verloren.
uwebade hat geschrieben: Natürlich ist es nicht auszuschließen, dass durch äußere, von der reisenden Mannschaft nicht zu beeinflussende Ereignisse, ihre auf eine Sicherheit von ca. 60 Minuten ausgerichtete Planung hinfällig wird und eine Verspätung eintritt, die die in der TO genannte Wartezeit überschreitet.
„Nicht zu beeinflussende Ereignisse“ - da fallen mir wenige ein. Orkanstürme, die den gesamten Verkehr zum Erliegen bringen, Schneestürme, die sämtliche Wege unpassierbar machen.
Dass die Planung „auf eine Sicherheit von ca. 60 Minuten ausgerichtet“ sein muss, halte ich für aus der Luft gegriffen. (Im Satz vorher waren es noch ca. 30 Minuten?!) Eine Fahrt von Zehlendorf nach Oberschöneweide plant man anders als eine von Norderstedt nach Oberschöneweide und diese wiederum anders als eine von Frankfurt/Oder nach Freiburg/Breisgau. Es ist jedem selbst überlassen, wie er plant. Man kann auch mit Ankunft in Oberschöneweide um 10.58 Uhr planen, bei einer Verspätung hat man halt die Folgen zu tragen.
uwebade hat geschrieben:Zeit ist ein hohes gesellschaftliches Gut. Für die TO sollten ähnliche Überlegungen gelten, wie sie für die Terminplanung anderer Ereignisse angestellt werden, die der Austragung eines Schachwettkampfes gleichrangig sind. Die generelle Forderung, am Vortage anzureisen bzw. einen früheren Zug zu nutzen halte ich deshalb für überzogen.
Und was sollen andere vergleichbare Ereignisse sein? Wäre es nicht von Norderstedt zum Schachspielen nach Oberschöneweide gegangen, sondern zum Abflug in die Karibik nach Schönefeld, hätten die Reisenden gewiss anders geplant, statt bei Zugverspätung auf die böse Fluggesellschaft zu schimpfen, die ohne sie abgeflogen ist. Bei einem Opernbesuch kann auch niemand eine Verschiebung des Beginns verlangen, weil er im Stau auf der Autobahn stehe. Aber die Schachspieler der Heimmannschaft, die soll man ohne eigenen Nachteil warten lassen können? Diese Einstellung betrachte ich als Ausdruck von Geringschätzung.
uwebade hat geschrieben:In dem gleichen Maße, wie die reisende Mannschaft klaglos eine geringfügige Verspätung innerhalb der Wartezeit zu Lasten der Bedenkzeit tragen muss, sollte auch dem Gastgeber in den ganz erheblich geringeren Fällen des Überschreitens der Wartezeit bei unverschuldeter Verspätung ein weiteres Abwarten zugemutet werden.
Gleiches Recht für alle. Das heißt ein und dieselbe Wartezeit sowohl für die Spieler der Heimmannschaft als auch für die der Gastmannschaft. Kein „weiteres“ Abwarten.
uwebade hat geschrieben: Die Entscheidung, ob unverschuldete Gründe für die Verspätung vorliegen, ob eine das ursprüngliche Zeitlimit der Veranstaltung überschreitende Verlängerung am Spielort möglich und der zusätzliche Zeitbedarf zumutbar ist, sollte eine nicht anfechtbare Tatsachenentscheidung des Schiedsrichters sein.
Ein und derselbe Sachverhalt wird dann von dem einen Schiedsrichter so, von einem anderen Schiedsrichter genau andersherum entschieden werden können? Nein und nochmals nein.

Was sind „unverschuldete Gründe“? Wenn man einen Begriff wie „Verschulden“ in die Diskussion einführt, sollte man sich der Bedeutung desselben bewusst sein. Im Falle Oberschöneweide-Norderstedt hatte die Deutsche Bahn nicht rechtzeitig auf die Fortdauer der Bauarbeiten hingewiesen und einen für die kürzeste Strecke nicht ausgebildeten Zugführer eingesetzt, also eindeutig fahrlässig gehandelt. Nach deutschem Recht hat man gemäß § 278 BGB für Verschulden des Erfüllungsgehilfen genauso einzustehen wie für eigenes Verschulden. Mithin hat Norderstedt das verspätete Eintreffen zu vertreten. Mit der Floskel „Nicht ich bin schuld, sondern die Bahn“ kommt man also spätestens bei den Volljuristen im Bundesturniergericht ebenso wenig durch wie mit „Der Wecker war zu leise“.

Und nun sollen Wohl und Wehe der Gastmannschaft davon abhängen, ob der Schiedsrichter Volljurist ist und diese Zusammenhänge rechtlich korrekt würdigt - wonach der Mannschaftskampf dann nicht stattfindet - oder eben nicht?
uwebade hat geschrieben:Der Schiedsrichter sollte berechtigt sein, in solchen Ausnahmefällen nach Ablauf der Wartezeit die Uhren der abwesenden Gastmannschaft bis zu deren Eintreffen anzuhalten.
Nein, soll er nicht.
uwebade hat geschrieben:Eine Auslegung im Sinne der vorstehenden Überlegungen wäre m.E. eine sinnvolle Verbindung des auf den allgemeinen Fall beschränkten Wortlautes der TO und des Wortlautes der Präambel der FIDE-Schachregeln, welche die Verfahrensweise bei Ausnahmesituationen bestimmt.
Ich vermag nicht zu erkennen, dass die Turnierordnung in irgendeiner Weise „beschränkt“ ist. Die Wartezeit ist doch allgemeinverbindlich formuliert, und zwar für alle möglichen Fälle von Verspätungen. Die Anwendung der Präambel der FIDE-Schachregeln halte ich nicht für zulässig, da gar kein Fall vorliegt, der „nicht durch einen Artikel der Schachregeln genau geklärt“ ist. Eher ist der Tendenz entgegenzutreten, Ergebnisse, die sich nach Anwendung von FIDE-Schachregeln und DSB-Turnierordnung ergeben, über den Umweg der Präambel auszuhebeln und durch eine dem Betrachter genehme Entscheidung zu ersetzen.
uwebade hat geschrieben:Die alternative Verfahrensweise ist eine Verlusterklärung des Mannschaftskampfes mit dem höchstmöglichen Ergebnis ohne Wertung von Verspätungsgründen bei Überschreiten der Wartezeit. Sie ist einfach, praktikabel und erspart jegliche Diskussionen.
Das ist die Wiedergabe der gegenwärtigen Rechtslage, wie sie das Bundesturniergericht formuliert hat.
uwebade hat geschrieben: Sie folgt dem allgemeinen Trend zum Formalisieren von Entscheidungsvorgängen.
Gibt es einen derartigen allgemeinen Trend? Falls ja, was ist daran schädlich?
uwebade hat geschrieben:Aber sie schafft auch den Raum für nicht nachvollziehbare Ergebnisse, die sich der Betrachtungsweise eines sportlichen Wettkampfes entziehen.
Ich finde solche 8:0-Ergebnisse durchaus nachvollziehbar. Die Bezeichnung als „nicht nachvollziehbar“ scheint mir von dem Wunsche beseelt zu sein, dass solche Ergebnisse nicht gelten möge. Zum „sportlichen“ Wettkampf gehört auch das zeitige Erscheinen am Wettkampfort. Bei einer anderen Betrachtungsweise könnte man ausnahmslos jede Kampflos-Entscheidung ablehnen, dann braucht man auch eine Wartezeit generell nicht mehr.
uwebade hat geschrieben:Der vorliegende Protestfall hat neben der überragenden Bedeutung für die Beurteilung von unverschuldeten Verspätungen einen weiteren die TO berührenden Aspekt. Ich meine die Behandlung von kampflos zustande gekommenen bzw. am „Grünen Tisch“ entschiedenen Ergebnissen für Entscheidungen bei Punktgleichheit (TO, H-2.6 letzter Absatz). Hier wird der 8:0-Gewinn berücksichtigt, nicht aber der 0:8-Verlust. Die Gastmannschaft hatte den o.g. Wettkampf am Brett klar gewonnen. Ich würde es für gerechtfertigt halten, wenn analog zum 8:0-Gewinn bei einem 0:8-Verlust die erzielten (aber höchstens 3,5) Brettpunkte eingesetzt werden.
Dass der vorliegende Protestfall keinen Fall einer „unverschuldeten Verspätung“ darstellt, habe ich bereits ausgeführt. Den Absatz H-2.6 muss man sich einmal bewusst vor Augen halten, um seine Bedeutung und seine Folgen zu erfassen. Gewinnt eine Mannschaft kampflos (8:0), soll von diesem Kampf also im Falle von Punktgleichheit in Mannschaftspunkten mit einem anderen Team so getan werden, als ob die Mannschaft nicht 8, sondern nur 4,5 Punkte erzielt hätte. Eine derartige Regelung ist abzulehnen, da sie die kampflos gewinnende Mannschaft schwer schädigt, der so von vornherein die Möglichkeit genommen wird, zu beweisen, dass sie etwa ebenso hoch wie der punktgleiche Konkurrent gewonnen hätte. Dementsprechend lehne ich auch eine analoge Regelung für den 0:8-Verlust ab. Wenn ein Kampf gar nicht hätte stattfinden dürfen, dürfen auch die dabei erzielten Brettpunkte keine Rolle spielen. Sonst engagiert man einfach eine Handvoll Großmeister, die zwar nicht spielberechtigt sind, aber trotzdem die zum Klassenerhalt noch benötigten dreieinhalb Brettpunkte einfahren können.

Wenn schon eine Änderung der Turnierordnung angedacht ist, kann diese nur in der Wiedereinführung der früheren Wartezeit von 60 Minuten bestehen. Einen Fall Oberschöneweide-Norderstedt hätte es dann nie gegeben.
jesre hat geschrieben:Wieso kommen eigentlich meist die gegnerischen Spieler zu spät und nicht der Schiedsrichter? Möglicherweise weil Sie notfalls auch etwas längere Wartezeiten in Kauf nehmen.
Nun, das dürfte auch daran liegen, dass meistens Schiedsrichter aus der Nähe des Spielortes eingeteilt werden. Dass ein Schiedsrichter aus Norderstedt einen Wettkampf in Berlin zu leiten hat, dürfte so gut wie nie vorkommen.
guhl hat geschrieben:Letzendlich ist es ein gesellschaftliches Phänomen. Immer häufiger, erlebe zumindest ich, lässt man Leute warten und verspätet sich. Vor allem bei Schachspielern und Schachturnieren ist das eine oft zu beobachtende Situation, aber wie überall sollte es so sein, dass man ganz einfach pünktlich sein muss. Der Zug wartet auch nicht auf mich, nur weil ich verschlafen habe. Wer zu spät kommt, hat einfach Pech gehabt. Daher sollte man schon soweit wie möglich alles in Betracht zu ziehen rechtzeitig zu kommen. Das derzeitige Regelwerk halte ich vollkommen für ausreichend. Vielleicht nicht aus Sicht der FIDE-Regeln, aber ich gehe mal davon aus, dass die Landesverbände die "Tolleranzzeit" nicht auf Null belassen haben. Aber das schöne ist, dass hier auch jeder seine eigene Meinung haben darf.

Ich finde nur, dass wir durch das Wartenlassen den Leuten Zeit stehlen!
Ja, die ganze Diskussion ist Ausdruck eines tiefgreifenden Werteverlustes. Früher war Pünktlichkeit eine Tugend, heute gilt es beinahe als "schick", zu spät zu kommen. "Ich - ich -ich", und dann erst kommen (vielleicht) die anderen. Eine Stunde früher aufstehen? Wo kommen wir denn dahin?

Georg Heinze
Beiträge: 905
Registriert: 20.10.2007, 11:27

Re: Verspätung und Nichtantritt

Beitrag von Georg Heinze » 09.06.2012, 20:16

Eckart ist auf die einzelnen Punkte der Darlegungen von uwebade sehr ausführlich eingegangen.
Im wesentlichen kann ich seine Kommentierung nachvollziehen und finde sie ok.
Was aber das eigentliche Problem anbelangt, drückt er sich vor der letzten Konsequenz und schlägt sich in der Argumentation auf die Seite der in Protest gegangenen TSG Oberschöneweide.
Das Argument ist bekannt: früher aufstehen und noch einen Zug früher nehmen.
Im vorliegenden Fall hätte dies tatsächlich allen geholfen: der SK Norderstedt wäre pünktlich am Spielort gewesen, der Kampf wäre ausgetragen worden, ohne dass es einen Protestgrund gegeben hätte.
So einfach ist das - ist es das wirklich?
Ich hatte es in meinem Beitrag vom 15.05.12 bereits geschrieben:
Ich sehe grundsätzlich nur 2 Möglichkeiten:
1. es wird immer und ohne Ausnahme nach der TO gehandelt: nach Ablauf der Karenzzeit sind die Partien verloren, bei denen keine Partieaufnahme erfolgte. So hat das Bundesturniergericht argumentiert. Allerdings finde ich das, bei Vorliegen besonderer Umstände, als sportlich nicht angemessen, aber eben eindeutig.
2. Man formuliert in der Turnierordnung mehr Entscheidungsbefugnisse des Schiedsrichters entsprechend des gegebenen Sachverhaltes. Das ist aber –wie bereits dargelegt- erstens nicht einfach und zweitens schafft es neue Probleme.
Wird nach 1. verfahren, hätte der SK Norderstedt verloren, wie hoch, steht in der TO.
Was wird aber in Fällen "höherer Gewalt", die zwar auch Eckart benannt hat, aber was zählt alles dazu und wer entscheidet darüber? Im vorliegenden Fall hat es der für den Wettkampf zuständige SR entschieden.
Zählt eine Zugverspätung dazu und wenn ja, bei wieviel Minuten oder Stunden?
Diese Frage hat weder Eckart, noch das Turniergericht beantwortet. Das heißt, die Begründung des Turniergerichts hierzu kenne ich nicht und ist auch offiziell nirgends nachzulesen - sicher aus Datenschutzgründen.

thomas.soergel
Beiträge: 369
Registriert: 01.04.2008, 11:27
Was ist die Summe aus 10 und 4?: 0
Wohnort: 82166 Gräfelfing

Zumutbarkeit und Augenmaß

Beitrag von thomas.soergel » 12.06.2012, 11:27

Die Beweggründe von Eckart kann ich auch absolut nachvollziehen. Insbesondere wenn Individualisten auf den letzten Drücker planen und davon wie selbstverständlich ausgehen, die anderen würden schon darauf Rücksicht nehmen. Bevor man aber hier rigoros auf 8:0 bzw. 0:8 ohne Wenn und Aber plädiert, sollte man halt vorher festlegen, was dem Gast zugemutet werden kann und was nicht.
Beispiel: Bei dreistündigen Bahnreise mit ein- oder zweimal Umsteigen käme man unter normalen Umständen 30 Minuten vor Spielbeginn an. Kann der Gastmannschaft zugemutet werden, bei Start eine Stunde früher eineinhalb Stunden sinnlos zu warten, wenn alles glatt läuft? Wenn die Spielleitung dieser Auffassung ist, dann sollte es so vor der Saison kommuniziert werden. Wer sich dann auf die Bahn verlässt, macht dies auf eigenes Risiko. Irgendwo sollte aber eine Grenze sein. Etwa, wenn der Gast einen Zug früher nimmt und auf dieser Fahrt dann die Lok ausfällt oder auf der Fahrt ein Unfall passiert und die Strecke gesperrt ist.
Man muss hier schon die Möglichkeit haben, von Fall zu Fall zu entscheiden. Insbesondere, wenn der Gast sich großzügig bemüht hat, eine Verspätung zu vermeiden. Ich denke, die beiden, scheinbar unterschiedlichen Entscheidungen des Bundesturnierdirektors Ralph Alt sind hier beispielgebend.
1. Spielleiter
Bayerische Schachjugend

Georg Heinze
Beiträge: 905
Registriert: 20.10.2007, 11:27

Re: Verspätung und Nichtantritt

Beitrag von Georg Heinze » 12.06.2012, 13:41

thomas.soergel schreibt:
Kann der Gastmannschaft zugemutet werden, bei Start eine Stunde früher eineinhalb Stunden sinnlos zu warten, wenn alles glatt läuft? Wenn die Spielleitung dieser Auffassung ist, dann sollte es so vor der Saison kommuniziert werden.
Genau das ist ja das Problem: was kann der Gastmannschaft zugemutet werden?
Und was heißt hier:
dann sollte es so vor der Saison kommuniziert werden.
Das heißt ja wohl, es müsste in die Turnierordnung rein.
Man muss hier schon die Möglichkeit haben, von Fall zu Fall zu entscheiden.

"Man" ist wohl der Schiedsrichter und der hat in diesem Fall entschieden. Er hat sogar Rücksprache mit dem Spielleiter genommen. Wenn die "Fälle" nicht konkret benannt sind, wird es immer wieder Streit geben, was "höhere Gewalt" ist und was nicht. Bleibt es dem Ermessen des SR überlassen - siehe oben.

Georg Heinze
Beiträge: 905
Registriert: 20.10.2007, 11:27

Re: Verspätung und Nichtantritt

Beitrag von Georg Heinze » 28.07.2012, 12:28

Wie auf der DSB-Homepage nachzulesen ist, gibt es nun eine wichtige Änderung der Bundesturnierordnung hinsichtlich des Punktes H-2.10:
"Ist eine Mannschaft oder ein einzelner Spieler einer Mannschaft auf Grund nicht vorhersehbarer Umstände gehindert, rechtzeitig zum vereinbarten Spieltermin zu erscheinen, dann entscheidet der Schiedsrichter nach pflichtgemäßem Ermessen, wann der Wettkampf bzw. die einzelne Partie beginnt und wie die Uhren einzustellen sind."
Im Grunde wurde damit nachträglich das sanktioniert, was im konkreten Fall vom zuständigen SR entschieden wurde.
Der SR vor Ort erhält damit einen größeren, von der Turnierordnung gedeckten Handlungsspielraum.

hoppepit
Beiträge: 428
Registriert: 16.02.2008, 11:24
Was ist die Summe aus 10 und 4?: 0
Wohnort: Heimbach-Weis (NR)

Re: Verspätung und Nichtantritt

Beitrag von hoppepit » 28.07.2012, 12:52

Georg Heinze hat geschrieben:Der SR vor Ort erhält damit einen größeren, von der Turnierordnung gedeckten Handlungsspielraum.
Ja, den gilt es aber mit verdammt viel Fingerspitzengefühl auszuloten!
In "auf Grund nicht vorhersehbarer Umstände" ist sehr viel "Gummi" drin.
Da wird es sicher noch die ein oder andere Streitigkeit geben, was vorhersehbar war und was nicht.
Gruß, Peter
Unterlagen für Schiedsrichter und Turnierorganisation:
https://www.schachschiri.de
Threema: KPH5UBWT

Antworten